Montag, 10. September 2012

Wie der Norden Europas das Sozialsystem finanziert

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»Bürgerversicherung« ohne Versicherung


In Norwegen garantiert der Staat Sozialleistungen für alle Einwohner

Auch in Norwegen wird angesichts der »Altenwelle« über eine Reform der Rentenversicherung diskutiert. Der Ausgangspunkt, das Sozialversicherungssystem, ist im Vergleich zu Deutschland ganz anders organisiert, nämlich einheitlich, und scheint auf einem solideren Fundament zu stehen. Unser Autor diskutiert das norwegische »Folketrygd-System« (wörtlich übersetzt: Volkssicherheitssystem) in seinen Eigenheiten und zieht gelegentlich Vergleiche zur deutschen Situation.

Versicherungen braucht der normale Norweger nicht unbedingt. Alle Einwohner sind Pflichtmitglied im sozialen Sicherheitssystem Folketrygd, auch wenn sie nicht arbeiten. Wenn von Versicherungen die Rede ist, denkt man hier beispielsweise an private Hausratsversicherungen oder an die in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern üblichen Sozialversicherungen für Arbeiter und Angestellte. Der in Deutschland in den aktuellen Debatten benutzte Ausdruck Bürgerversicherung würde für Verwirrung sorgen, obwohl er vieles von dem deckt, was für die skandinavischen oder nordischen Sozialsysteme bestimmend ist.

Alle nordischen Staaten besitzen universelle, das heißt für alle Einwohner (nicht Staatsbürger) im Grundsatz gleiche Sozialsysteme, während die meisten anderen Länder mehr oder weniger obligatorische Sozialversicherungen anbieten, die an ein bezahltes und abhängiges Arbeitsverhältnis oder an einen bestimmten Beruf gebunden sind. Ein klares »skandinavisches Modell« gibt es dennoch nicht. Einerseits gibt es ähnliche universelle Systeme auch in anderen Staaten, etwa für das Gesundheitswesen und die Altersversorgung in Großbritannien und in den Niederlanden.(1) »Einwohner-Krankenversicherungen« wurden in einer ganzen Reihe europäischer Staaten eingeführt. Andererseits sind die Unterschiede zwischen den nordischen Staaten nicht unbedeutend. So wird die dänische Basisrente seit 1994 etwa bei gleichzeitigem Bezug einer Betriebsrente gekürzt oder fällt ganz weg. In Schweden wurden Teile der Altersversorgung aus dem universellen System herausgenommen und auf Fonds übertragen. In beiden Ländern ist die Arbeitslosenversicherung freiwillig und setzt die Mitgliedschaft in Gewerkschaftskassen voraus.

Keine Sondersysteme
Die Idee universeller sozialer Sicherheit für die gesamte Bevölkerung wurde in den skandinavischen Ländern schon Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert. Von Forschern wird das unter anderem darauf zurückgeführt, dass die Bauern hier während der Industrialisierung weitaus stärker die Gesellschaft prägten und in die politischen Debatten eingebunden waren als etwa in Deutschland. Die erste Unfallversicherung Norwegens war 1894 noch wie in Deutschland Industriearbeitern vorbehalten. 1916 begannen die Gemeinden, Mindestrenten für Bedürftige einzuführen. Nach und nach wurden im Lauf der ersten fünf Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts alle Zweige der üblichen Sozialversicherungen auf universelle Systeme umgestellt oder von vornherein als solche aufgebaut. Bedürftigkeitsprüfungen wurden für die wichtigsten Leistungen abgeschafft. Mit dem Folketrygd-Gesetz von 1966 wurde eine einheitliche Verwaltung im Rikstrygdeverk geschaffen – wörtlich »Reichssicherheitswerk«, eine Art Zentralamt für soziale Sicherheit.

Niedrige Beiträge, keine Bemessungsgrenzen
Einwohner Norwegens brauchen also nicht die Beiträge konkurrierender Krankenversicherungen vergleichen oder sich fragen, ob die LVA oder die BfA für ihre Altersversorgung zuständig ist. Sie sind automatisch Folketrygd-Mitglied und können sich in allen Fragen an das örtliche Trygdekontor wenden. Wenn sie arbeiten und mehr als 23000 Kronen oder umgerechnet knapp 2700 Euro im Jahr verdienen, zahlen sie 7,8 Prozent ihres Einkommens als Mitgliedsbeitrag – also erheblich weniger als die Sozialabgaben in Deutschland.(2) Kapitaleinkünfte sind zwar nicht abgabepflichtig, jedoch alle Arbeitseinkommen in voller Höhe ohne Bemessungsgrenze. Freie Mitarbeiter gelten als nichtangestellte Gehaltsempfänger und zahlen denselben Beitrag. Selbstständige und mitarbeitende Eigentümer in Gewerbebetrieben (einschließlich der Hauptanteilseigner in Kapitalgesellschaften) zahlen normalerweise 10,7 Prozent ihres »Personeneinkommens«(3), haben dafür aber im Prinzip auch Anspruch auf alle Leistungen außer Arbeitslosengeld.(4) Für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst(5) gibt es zwar Zusatzversorgungssysteme, aber auch hier sind alle Folketrygd-Mitglieder.
Die Arbeitgeberabgabe beträgt in der Regel 14,1 Prozent(6) aller gezahlten Gehälter einschließlich der Honorare für freie Mitarbeiter – auch das um einiges niedriger als in Deutschland. Allerdings gibt es auch hier keine Beitragsbemessungsgrenze, und für den Teil eines Jahresgehalts, der 100000 Euro übersteigt, ist sogar eine zusätzliche Abgabe von 12,5 Prozent fällig.

Mit diesen Regeln sind Probleme wie das Abdrängen in Scheinselbstständigkeit oder abgabenfreie Minijobs wenig verbreitet. Selbst wer unter den 2700 Euro im Jahr oder gar nichts verdient, bekommt die grundlegenden Sozialleistungen. Andererseits führen hohe Abgaben bei hohen Gehältern nur in geringem Maße zu höheren Ansprüchen. So entspricht das »Geburtsgeld« für normal verdienende Mütter und Väter zwar 42 Wochen Freistellung bei vollem Gehalt oder 52 Wochen, in denen 80 Prozent des Lohns weiter gezahlt werden – jedoch gibt es für Jahrseinkünfte über 40000 Euro keinen Ausgleich(7), während Niedrigstverdiener oder Hausfrauen eine einmalige Unterstützung von knapp 4000 Euro bekommen.

Die großzügige Freistellung bei der Geburt eines Kindes begünstigt gleichwohl berufstätige Frauen und leistet damit einen wichtigen Beitrag sowohl zum großen Anteil erwerbstätiger Frauen als auch zu einer vergleichsweise hohen Geburtenrate. Das Kindergeld wird direkt aus dem Staatshaushalt finanziert und liegt etwa auf deutschem Niveau, es gibt aber zusätzliche Leistungen für Alleinerziehende.(8)

Dreißig Prozent aus Steuermitteln
Die verschiedenen Zweige des Sozialsystems werden einheitlich verwaltet und unterstehen der Kontrolle der Regierung und des Parlaments. Korporatistische Selbstverwaltungen unter Beteiligung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt es nicht. Die Mitgliedsbeiträge der Arbeitnehmer, Freiberufler und Selbstständigen machen etwa 30 Prozent der Einnahmen des Rikstrygdeverkets aus. Ebenso viel schießt der Staat direkt aus Steuermitteln zu, und etwa 40 Prozent des Budgets wird aus den Arbeitgeberabgaben gespeist. Nur ein ganz kleiner Anteil kommt aus dem Folketrygdfond, der zwar ein bedeutender Akteur auf dem inländischen Finanzmarkt ist, dessen Überschüsse aber angesichts der hohen Kosten der Altersversorgung unbedeutend sind.

Mindestrente und Zusatzrente
Auch die Rentenregelung sorgt für sozialen Ausgleich: Alle Einwohner bekommen eine Mindestrente, wenn sie von ihrem 16. bis 66. Lebensjahr mindestens drei Jahre im Land gemeldet waren. Der volle Satz wird mit 40 Jahren Wohnzeit erreicht; wer nicht so viel vorweisen kann, erhält nur einen entsprechenden Anteil. Allein stehende Mindestrentner bekommen normalerweise knapp unter 1000 Euro im Monat ausgezahlt. Der Betrag liegt weit über dem Sozialhilfesatz und ist für deutsche Verhältnisse außerordentlich hoch. Es gibt jedoch zumindest in den größeren Städten eine ganze Reihe alter Menschen, die es im Lauf ihres Lebens nicht geschafft haben, eine eigene Wohnung zu kaufen, und die deshalb oft eine sehr teure Wohnung mieten müssen.(9) Dafür kann im Einzelfall die gesamte Rente draufgehen, sodass trotz zusätzlichen Wohngeldes manche von Sozialhilfe abhängig sind. Gleichwohl waren 1999 nur drei Prozent der Sozialhilfeempfänger im Rentenalter(10), was als Erfolg des Mindestrentenkonzepts gewertet werden kann.


Wer Arbeitseinkommen hat, erwirbt damit Anspruch auf eine Zusatzrente. Deren Höhe ist wie in Deutschland von der Dauer der Beschäftigung und von der Höhe der Einkünfte abhängig. Dabei zählt allerdings der Teil eines Jahresgehalts, der die genannte Grenze von 40000 Euro übersteigt, nur zu einem Drittel, und alles über 80000 Euro fließt überhaupt nicht in die Berechnung ein. Das System ist also eine Mischung aus Mindestrente und einkommensabhängiger Rente, mit der sowohl eine Grundsicherung als auch ein gewisser, allerdings eingeschränkter Zusammenhang zwischen den jeweils eingezahlten Beiträgen und der späteren Rentenhöhe gewährleistet ist.

Zu wenig Rente für Gutverdienende?
Das System von Mindest- und Zusatzrente gilt bei der breiten Mehrheit im Grundsatz als verteidigenswert, hat sich aber in den letzten Jahrzehnten nicht gleichmäßig für alle entwickelt. Während die Mindestrente stärker stieg als die Reallöhne, wurde die Zusatzrente nur der Preissteigerungsrate angepasst. Außerdem waren die Regeln für die Anrechnung hoher Einkommen vor 1992 großzügiger. Ursprünglich sollte die Folkepensjon Normalverdienern eine Rente von zwei Dritteln ihres letzten Bruttoeinkommens sichern. In den nächsten Jahren werden viele nicht einmal 55 Prozent erreichen. Der Zusammenhang zwischen eingezahlten Beiträgen und Rentenhöhe ist also schwächer geworden.
Tarifvertragliche Zusatzversorgungen und private Rentenversicherungen spielen deshalb eine immer größere Rolle. Das führt oft zu Problemen bei der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, weil der billigste Anbieter meist die schlechteste oder gar keine Zusatzversorgung bietet und die Beschäftigten dennoch oft mehr oder weniger gezwungen sind, zu eben diesem Anbieter zu wechseln, wenn sie nicht arbeitslos werden wollen.
Die Zusatzpension im öffentlichen Dienst garantiert langjährigen Angestellten nach wie vor 66 Prozent des letzten Bruttoeinkommens als Gesamtrente. Diese Großzügigkeit führte in den vergangenen Jahren einige Gemeinden an den Rand des Ruins, denn die Kommunale Pensionskasse hatte große Teile der Einlagen in Aktien investiert, die bekanntlich rapide an Wert verloren. Damit waren Zusatzprämien in Millionenhöhe fällig, die aus dem laufenden Haushalt nachgeschossen werden mussten. Seitdem hat die auch in Norwegen in einigen Kreisen starke Begeisterung für kapitalgedeckte Renten erheblich nachgelassen.

Arbeitsmarkt wichtiger als Einwanderung
Der Anteil der Älteren nimmt auch in Norwegen zu, obwohl die Geburtenrate zu den höchsten in Europa gehört. Neben dem universellen Folketrygd-System mit seiner breiten Finanzierungsbasis bei gleichzeitig begrenzten Leistungen für Besserverdienende gibt es indessen weitere Faktoren, die das Problem entschärfen: Niedrige Arbeitslosigkeit, hoher Anteil erwerbstätiger Frauen und Rentenanspruch erst mit 67. Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt selbstredend niedriger. Dennoch: Trotz des nach den meisten Tarifverträgen ohne größere Abschläge möglichen Renteneintritts mit 62 Jahren und trotz vieler erwerbsunfähiger Frührentner hat Norwegen europaweit den höchsten Anteil 50- bis 65-jähriger Menschen, die weiterhin arbeiten.(11)

Untersuchungen des Statistischen Zentralamts(12) zeigen, dass genau auf diesen Gebieten die wichtigsten Voraussetzungen liegen, um die erhöhten Rentenlasten der Zukunft in den Griff zu kriegen. Mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik im Zentrum, die vor allem die Bedingungen für ältere Beschäftigte stark verbessern müsste, ließe sich bei sonst gleichen Bedingungen die derzeitige Beitragshöhe selbst in vierzig Jahren noch halten. Eine reine Erhöhung des formellen Renteneintrittsalters oder vermehrte Einwanderung hätte demgegenüber kaum Auswirkungen.

Zwei umstrittene Reformvorschläge
Trotz der oben zusammengefassten Untersuchungsergebnisse des Statistischen Zentralamtes herrscht eine gewisse Panik angesichts der »Altenwelle«, die in einigen Jahrzehnten auf das Land zurollt und für viele als nicht finanzierbar gilt. Eine Rentenkommission wurde deshalb auch in Norwegen eingesetzt. Im September 2002 skizzierte die Pensjonskommisjon in einem vorläufigen Bericht zwei Reformvorschläge: Entweder die Folkepensjon in eine reine Mindestrente umzuwandeln oder das bisherige System so weiterzuentwickeln, dass die Höhe der Einzahlungen sich stärker auf die Rente auswirkt.

Das erste Modell würde zu ernsten Legitimitätsproblemen führen, weil kaum jemand einsehen wird, auch von mittleren und höheren Einkommen Abzüge hinnehmen zu müssen und trotzdem nur eine Mindestrente zu bekommen, also zusätzlich noch für eine private Altersversorgung zahlen zu müssen. Das gesamte Sozialsystem könnte ins Wanken kommen, wenn große Teile der Normalbevölkerung keinen Nutzen mehr für sich darin sehen, Sozialabgaben zu leisten. Diesem Problem könnte der zweite Vorschlag vorbeugen. Er hat aber in seiner konkreten Ausprägung (und mehr oder weniger zwangsläufig, wenn damit auch Geld gespart werden soll) den Haken, dass Menschen mit spätem Berufseinstieg, viel Teilzeitarbeit und unstetem Erwerbsleben erheblich weniger bekommen würden als heute. Vor allem viele Frauen würden benachteiligt.

Viele Gewerkschafter setzen auf betriebliche Zusatzversorgung. Auch das könnte die Folkepensjon untergraben, wenn der Druck für Reformen geringer wird und sich der Trend fortsetzt, dass die Zusatzrente sich für Normalverdiener immer weniger auszahlt. Die eigentliche Herausforderung ist, diesen Trend zu stoppen und in Maßen umzukehren, ohne den Gedanken der Grundsicherung und des sozialen Ausgleichs aufzugeben.
Das ist auch in Norwegen schwierig. Der Ausgangsvorteil gegenüber Deutschland liegt jedoch auf der Hand: Es gibt bereits ein System, in das alle einzahlen, das für soziale Sicherheit im Alter sorgt und das gleichzeitig von breiten Schichten der Bevölkerung einschließlich der »Besserverdienenden« weitgehend akzeptiert und unterstützt wird.

Steuerparadies Norwegen
Gehaltsempfänger. Das Formular für die Steuererklärung besteht aus einem einzigen Blatt mit Vorder- und Rückseite, obwohl hier auch noch die Sozialabgaben mit abgerechnet werden. Das meiste ist bereits vorgedruckt, weil Arbeitsverhältnisse, Konten und alles, was sonst noch wichtig ist, stets unter der eigenen Personennummer registriert ist und die entsprechenden Informationen am Jahresende dem Finanzamt gemeldet werden. Das riecht nach Überwachungsstaat, wird aber hierzulande nicht infragegestellt. Wenn im zurückliegenden Jahr nichts Außergewöhnliches passiert ist, entsprechen die vom Arbeitgeber monatlich abgeführten Steuern und Sozialabgaben ziemlich genau der fälligen Steuerschuld. Für ein durchaus normales Brutto-Jahreseinkommen von umgerechnet 38000 Euro sind das insgesamt noch nicht einmal 25 Prozent Abzüge – während in Deutschland fast 45 Prozent fällig wären.

Das liegt zum einen an den niedrigen Sozialabgaben, aber auch die Steuersätze sind im Normalfall wesentlich geringer als in vielen anderen Staaten. Trotzdem glauben die meisten Norweger, dass sie in einem Hochsteuerland leben. Dieses Gerücht ist auch in Deutschland nicht totzukriegen und beruht zum Teil darauf, dass neben der Mehrwertsteuer von 24 Prozent diverse, zum Teil sehr hohe Sondersteuern und -abgaben erhoben werden, beispielsweise auf Alkohol, Zucker und Autos.(13) Auch gibt es für natürliche Personen nach wie vor eine Vermögenssteuer.

Dreistufiges Steuersystem für Arbeitseinkommen
Für Jahres-Arbeitseinkommen bis zu knapp 40000 Euro gilt ein einheitlicher Steuersatz von 28 Prozent.(14) Jeder Euro darüber wird zusätzlich mit 13,5 Prozent besteuert, und ab 100000 Euro sind weitere 19,5 Prozent Steuern fällig. Die üblichen, auf deutschem Niveau liegenden Freibeträge können nur von dem Teil des Einkommens abgezogen werden, der normal mit 28 Prozent besteuert wird, so dass viel verdienende Gehaltsempfänger ohne gewerbliche oder Kapitaleinkünfte den erhöhten Steuersätzen kaum entgehen können. Wer wirklich viel verdient, hat aber meist einen Betrieb oder Wertpapiere und kann nach den geltenden Regeln mit etwas Geschick zu denen gehören, die gar keine Steuern zahlen.

Nur der niedrigste Steuersatz für Kapitaleinkünfte
Mit der Steuerreform von 1992 senkte die sozialdemokratische Regierung die Körperschaftssteuern für Aktiengesellschaften von 50,8 auf 28 Prozent und schaffte die Steuern auf ausgezahlte Dividenden ganz ab. Der Satz für gewerbliche und sonstige Kapitaleinkommen wurde auf einheitlich 28 Prozent festgesetzt. Die Nichtbesteuerung von Dividenden führte zur vermehrten Ausschüttung von Gewinnen, statt diese zu reinvestieren. Der Abstand des Nettoeinkommens zwischen den zehn Prozent reichsten und den zehn Prozent ärmsten Haushalten vergrößerte sich von 4,5 zu 1 im Jahre 1986 auf 5,9 zu 1 1996.(15) Im internationalen Vergleich ist das immer noch ein geringer Einkommensunterschied, es zeigt sich aber eine Tendenz, die auch in anderen Ländern gilt.
Die unterschiedliche Behandlung von Arbeitseinkommen auf der einen und gewerblichem sowie Kapitaleinkommen auf der anderen Seite brachte mit sich, dass beispielsweise Künstler Aktiengesellschaften gründeten und sich Gewinne auszahlen ließen, statt ihre Honorare als Arbeitseinkommen zu versteuern. Deshalb wurde ein Verfahren eingeführt, mit dem für alle solchen und ähnlichen Fälle ein so genanntes Personeneinkommen ermittelt wird, welches dem Anteil des Einkommens entspricht, der mit der eigenen Arbeit erzielt wurde – im Gegensatz zum Anteil, der dem eingesetzten Kapital entspricht. Auf diese Weise kann zumindest ein Teil dieser Einkünfte höher versteuert werden und ist sozialabgabepflichtig.

Viele verstehen es dennoch, ähnlich wie in Deutschland, über ihre Gewinn- und Verlustrechnung mit entsprechenden Absetzmöglichkeiten ihr nominelles Einkommen so herunterzurechnen, dass keine Steuern mehr fällig werden. Die 500 reichsten Norweger hatten im Jahr 2000 im Schnitt ein Bruttoeinkommen von 2,4 Millionen Euro. Davon zahlten sie nur 23,2 Prozent Steuern und Sozialabgaben.

In diesen Fragen hat die Politik noch nicht zu einer klaren Linie gefunden. In einzelnen Jahren wurden so Dividenden geringfügig besteuert. Die Haupttendenz der diskutierten Vorschläge ist jedoch, auch die Steuern auf hohe Arbeitseinkommen zu senken, um die Abgrenzungsprobleme zu den Kapitaleinkünften zu verringern.

Kredite mindern die Steuern
Für normale Gehaltsempfänger gibt es neben einigen Freibeträgen nur wenige Möglichkeiten, Ausgaben von der Steuer abzusetzen. Ganz einzigartig ist jedoch die Möglichkeit, alle anfallenden Zinsausgaben vom Einkommen abzuziehen (soweit dieses mit 28 Prozent besteuert wird).(16) Damit ist die Finanzierung größerer Anschaffungen mit Krediten äußerst attraktiv, was vor allem die Eigentümer von Wohnungen und Häusern stark gegenüber Mietern begünstigt. Das reale Zinsniveau liegt damit 28 Prozent unter dem nominellen Zinssatz. Deshalb sind auch die Leitzinsen der Nationalbank nicht direkt mit denen in anderen Ländern vergleichbar und müssen zwangsläufig immer etwas höher liegen, um denselben geldpolitischen Effekt zu erzielen wie ohne diese Spezialregelung.


Kein Ehegattensplitting
Für Ehepaare, registrierte Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende gibt es eine eigene Steuerklasse. Dabei handelt es sich jedoch um nicht mehr als einen zusätzlichen Personenfreibetrag, der sich bei Ehen und Lebensgemeinschaften nur auswirkt, wenn einer der Partner ein geringfügiges oder gar kein Einkommen hat. In diesem Fall ist die Steuerschuld um etwa 1000 bis 1500 Euro im Jahr niedriger als für normale Steuerzahler.
Dieser geringfügige Steuervorteil kann mit der Subvention der Hausfrauen-Ehe durch das deutsche Ehegattensplitting bei weitem nicht mithalten und dürfte für Frauen im Normalfall kein Anreiz sein, ihren Beruf aufzugeben. Trotzdem ist damit die Annahme von Teilzeitarbeit für bisherige Hausfrauen unattraktiv, wenn der Job nur wenige Stunden in der Woche umfasst. Eine Steuerkommission hat deshalb vorgeschlagen, diese Steuerklasse abzuschaffen und stattdessen Familien mit Kindern stärker mit direkten Leistungen zu unterstützen.(17) Das ist selbstredend umstritten, aber ein echtes Ehegattensplitting würden selbst erzkonservative Familienpolitiker nicht fordern.
Eine ganz gegenteilige Forderung wird indessen in den letzten Jahren immer öfter laut: Die Steuern für Alleinstehende zu senken, weil die Lebenshaltungskosten in Ein-Personen-Haushalten naturgemäß am höchsten sind.

1
Stein Kuhnle: »Norge i møte med Europa«, in: Aksel Hatland, Stein Kuhnle, Tor Inge Romøren (Red.): Den norske velferdsstaten, Oslo 2002. Allen, die Norwegisch, Schwedisch oder Dänisch können, sei dieser Sammelband empfohlen.
2
Die konkreten Angaben sind meist den einschlägigen Broschüren des Rikstrygdeverkets entnommen. Einige davon sind auch auf Englisch erschienen und unter www.trygdeetaten.no/brosjyrer zu finden.
3
Dafür wird in einem komplizierten Verfahren der Anteil des Gesamteinkommens ermittelt, der mit persönlicher Arbeit erzielt wurde – in Abgrenzung zum Anteil, der der Verzinsung des eingesetzten Kapitals entspricht, wofür keine Sozialabgaben fällig werden. Näheres siehe Artikel zum Steuerrecht.
4
Neben Steuervorteilen ist auch der Anspruch auf Arbeitslosengeld ein Grund dafür, dass selbst »Ein-Mann«-Architekturbüros und -Anwaltskanzleien Aktiengesellschaften bilden mit dem Chef als Angestelltem.
5
Beamte im deutschen Verständnis sind im Wesentlichen nur die aller obersten Führungspersonen in den Ministerien sowie die leitenden Geistlichen der Staatskirche oberhalb der Gemeindepfarrer. Selbst Polizisten sind normale Angestellte mit Streikrecht.
6
Der Arbeitgeberanteil der Sozialabgaben war bisher regional differenziert. Als Anreiz für Arbeitsplätze in unterentwickelten und abgelegenen Gebieten war er in bestimmten Regionen ermäßigt und wurde im nördlichsten Teil des Landes überhaupt nicht erhoben. Auf Grund wiederholter Einsprüche der Überwachungsbehörde für den der EU assoziierten Europäischen Wirtschaftsraum wird diese Form der Regionalpolitik wahrscheinlich nur noch im äußersten Norden weitergeführt werden können. Norwegen könnte zwar die Arbeitgeberabgaben generell kürzen oder ganz abschaffen. Sie regional zu staffeln, gilt für die EU jedoch als unerlaubte Subvention.
7
Dasselbe gilt für das einjährige Krankengeld mit hundertprozentiger Lohnfortzahlung nach einer 14-tägigen Arbeitgeberperiode. Selbstständige bekommen 65 Prozent, können aber gegen eine Zusatzprämie den vollen Anspruch erwerben. Auch bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes zählt das Jahreseinkommen nur bis 40<|>000 Euro.
8
Historische und kulturelle Faktoren sind auch nicht zu verachten: Im bis weit ins 20. Jahrhundert stark von Kleinbauern und Fischern geprägten Norwegen war das reine Hausfrauendasein nur in den Nachkriegsjahrzehnten stärker verbreitet. Männer tragen mehr als in anderen Ländern zur Hausarbeit und insbesondere zur Kindererziehung bei. Kindergärten sind dagegen eher schlechter ausgebaut als in Deutschland und recht teuer.
9
Wohneigentum ist hier auch in den Städten vorherrschend und wird steuerlich stark gefördert. Die wenigen Mietwohnungen sind vor allem in den großen Städten sehr teuer. Von diesem Problem abgesehen, sind die Lebenshaltungskosten jedoch entgegen landläufigen Auffassungen nicht wesentlich höher als in Deutschland. Wer den Kredit für die eigene Wohnung abgezahlt hat, kommt deshalb mit der Mindestrente gut aus.
10
Aksel Hatland: »Trygd og arbeid«, in: Den norske Velferdsstaten.
11
Um der Tendenz des vorzeitigen Ruhestands entgegenzuwirken, ist für Angestellte ab 62 im letzten Jahr die Arbeitgeberabgabe um vier Prozentpunkte gesenkt worden. Einige Gemeinden haben bereits begonnen, diese Altersgruppe besser zu bezahlen.
12
Einar Bowitz, Ådne Cappelen: »Velferdsstatens økonomiske grunnlag«, in: Den norske Velferdsstaten.
13
Bis in die Sechzigerjahre hinein war die Einfuhr von Autos rationiert. Davon ist eine Einfuhrabgabe geblieben, mit der ein Kleinwagen fast doppelt so teuer ist wie in Mitteleuropa. Im laufenden Betrieb fallen jedoch keine wesentlich höheren Autokosten an als in Deutschland.
14
Englischsprachige Informationen des Finanzministeriums sind unter www.odin.dep.no/fin/engelsk zu finden.
15
Rune Skarstein: »Skauge for de rike«, in: Klassekampen (Tageszeitung in Oslo), 15.5.03.
16
Im Gegenzug werden alle Zinseinnahmen ohne Freibetrag dem mit 28 Prozent zu versteuernden Einkommen hinzugerechnet.
17
Aftenposten (Tageszeitung in Oslo), 10.6.03.
 


Gesundheitswesen in Norwegen

Für die grundlegenden Dienste im Gesundheitswesen einschließlich häuslicher Pflege und Pflegeheimen sind in Norwegen die Gemeinden zuständig, die dafür laufende Zuschüsse vom Staat und in speziellen Fällen auch Investitionszuschüsse bekommen.(1) Die meisten Ärzte sind dennoch nicht angestellt, sondern wie in Deutschland frei praktizierend. Sie erhalten einen Betriebskostenzuschuss von der jeweiligen Gemeinde, während der Rest der Behandlungskosten mit dem Rikstrygdeverk einzeln abgerechnet wird.

Für jeden Arztbesuch müssen die Patienten einen Eigenanteil von 117 Kronen oder umgerechnet gut 14 Euro berappen; bei einer Überweisung zum Spezialisten sind 24 Euro fällig.(2) Seit zwei Jahren haben alle Einwohner das Recht auf einen festen Hausarzt. Wer das nicht will, muss einen höheren Eigenbeitrag zahlen.(3) Für Medikamente müssen die Patienten 36 Prozent selbst zahlen, sie sind aber zum Teil billiger als in Deutschland.(4) Insgesamt sind die persönlichen Zuzahlungen auf 165 Euro im Jahr begrenzt, und Kinder unter sieben Jahren sind ganz befreit.(5) Wer teure Arzneimittel über dem jeweils festgesetzten Referenzpreis haben will, muss allerdings die Differenz zusätzlich selbst zahlen.

Stationäre Behandlung im Krankenhaus ist generell gratis. Nachdem sie lange eine Kreisangelegenheit (6) waren, unterstehen die öffentlichen Krankenhäuser seit 2002 direkt dem Staat. Die fünf neuen, betriebswirtschaftlich agierenden regionalen Gesundheitsbetriebe mit ihren Tochterunternehmen sind demokratischer Kontrolle weitgehend entzogen und nach der Umorganisierung vor allem mit Skandalen aufgefallen: Weil etwa die Hälfte der Kosten über Fallpauschalen finanziert wird, wurde zum Beispiel auf Anweisung eines Regionaldirektors in großem Stil versucht, die registrierten Diagnosen so zu manipulieren, dass dem jeweiligen Krankenhaus mehr Geld zufließt.

Weder der feste Hausarzt noch die Fallpauschalen haben zur Kostenreduzierung geführt. Das Kostenniveau liegt insgesamt im Mittelfeld der OECD-Staaten, obwohl in einem so dünn besiedelten Land speziell die Gesundheitsversorgung auf dem Land und im Norden zwangsläufig aufwändig ist. Abgelegene Orte haben Probleme, überhaupt genügend Ärzte und Pfleger zu finden. In den größeren Städten ist der traditionelle Mangel an Ärzten und Krankenschwestern inzwischen weitgehend behoben, unter anderem als Folge erheblicher Gehaltserhöhungen vor allem für das Pflegepersonal. Die schlechter bezahlten Hilfspfleger sind jedoch nach wie vor Mangelware.
 
Die lange Wartezeit bei nicht lebensbedrohenden Krankheiten ist noch immer ein großes Problem. Weil im Einzelfall mehrere Monate vergehen können, ehe ein Platz für eine solche nicht lebenswichtige Operation frei ist, werden hierfür neuerdings private Krankenversicherungen angeboten, die manche Firmen sogar für ihre Angestellten bezahlen. Diese Versicherungen tun nicht mehr, als die Behandlung innerhalb einiger Wochen zu garantieren. Dafür suchen und reservieren sie freie Plätze in den öffentlichen und gemeinnützigen Krankenhäusern oder, wenn es dort keine gibt, in privaten Einrichtungen oder im Notfall auch im Ausland. Die eigentlichen Behandlungskosten übernimmt auch hier meist das Rikstrygdeverk. Das Ganze scheint also eher eine Frage der Koordination zu sein, die auch das öffentliche Gesundheitswesen lösen können müsste.
Außer für diese Behandlungsgarantie gibt es keine einzige private Krankenversicherung. Insgesamt scheint das universelle öffentliche Gesundheitswesen so gut ausgebaut zu sein, dass »der Markt« keine ergänzenden privaten Lösungen anbietet. Das gilt kurioserweise auch für die Zahnbehandlung, die für Erwachsene völlig aus der öffentlichen Gesundheitsversorgung herausfällt.

Für Kinder und Jugendliche gibt es einen eigenen zahnärztlichen Dienst, der kostenlose Behandlung bietet und eine umfassende vorbeugende Arbeit leistet. Anschließend sind alle auf die privaten Zahnärzte angewiesen und müssen die Kosten vollständig selbst tragen, sofern es sich nicht um spezielle Kieferoperationen handelt. Die Ausgangsbasis ist damit recht gut, bei älteren Menschen ist der durchschnittliche Zustand der Zähne jedoch deutlich schlechter als in anderen Ländern.

Nicht nur bei Zahnersatz, sondern generell muss sich jeder Einzelne überlegen, wie viel ihm ein gesundes, vollständiges Gebiss wert ist. Vor einer komplizierten Wurzelbehandlung ist es keine ungewöhnliche Auskunft des Zahnarztes/der Zahnärztin, dass es nur ein Achtel kostet, wenn der Zahn einfach gezogen wird.

Immer wieder werden Forderungen laut, die Zahnbehandlung in das öffentliche Gesundheitswesen einzubeziehen. Konkrete Pläne, diese Lücke zu schließen, gibt es jedoch nicht. Mit entsprechenden Lücken im Gebiss ist deshalb weiterhin zu rechnen.

Michael Klinski



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