Montag, 21. Dezember 2015

Alternativlos oder doch in der Lage Nein sagen zu können?


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Fifty : Fifty -
vielleicht auch nur 50 Prozent


von Hans-Martin Esser

Als ich vor 3 Wochen auf Einladung des Achse-Autors Professor Walter Krämer, der ja Deutschlands bekanntester Statistiker ist, in Wiesbaden als Gasthörer an einem Kongress teilnahm, der sich mit dem mangelnden Statistik-Wissen in Deutschland befasste, wusste ich noch nicht, dass hieraus ein Artikel entstehen könnte.

Es ging bei dem Kongress darum, dass auch gebildete Menschen im Lande aus irgendwelchen diffusen Ängsten vor Mathematik oder Vorurteilen gegenüber der Statistik an sich keine Ahnung von Wahrscheinlichkeiten haben und dabei nichts finden.

Dabei kann das lebensentscheidend sein. Die Titelzeile „fifty: fifty – vielleicht auch nur 50 Prozent“ entstammt dem Komödienklassier „die nackte Kanone“. O.J. Simpson lag im Krankenhaus und Lesley Nielsen erkundigte sich nach seinen Überlebenschancen. Der Witz zeigte ein Fehlverständnis von Statistik, das selbst Laien als naiv und dumm vorkam.

Ironischerweise wurde eben jener O.J. Simpson im Prozess um die Ermordung seiner Frau aufgrund des fehlenden Statistik-Wissens des Richters freigesprochen.

Die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass eine ermordete Frau, die erwiesenermaßen von ihrem Mann geschlagen worden war, auch Opfer eben des Mannes ist, liegt bei beinahe 90 Prozent. Das soll heißen, dass ermordete Frauen, wenn sie zuvor vom Ehemann verprügelt worden waren, Opfer dessen werden, hoch ist.

Der Richter O.J. Simpsons verstand das fehl. Er fragte nämlich nach, wie wahrscheinlich es sei, dass eine Frau erst vom Ehemann geschlagen und später ermordet wird. Hier liegt die Wahrscheinlichkeit bei weniger als bei 1:2 000. Menschen werden eben selten ermordet, auch wenn der Gatte Schläger ist. Aufgrund dieses Missverständnisses gab es den Freispruch wegen angeblicher Unwahrscheinlichkeit.

Während des Statistik-Kongresses gab es viel Zuspruch. Typisch, auch aufgeklärte Menschen wissen mithilfe der Statistik nichts anzufangen. Der Witz ist, dass man die richtige Frage stellen muss und genau aufpassen sollte man auch.

Bei Kleinigkeiten sind derlei Missverständnisse egal. Bei lebensentscheidenden Fragen hingegen muss man die Verantwortung sehen. Ein Richter oder ein Arzt macht sich mitschuldig. Wenn Unwissenheit nicht vor Strafe schützt, müsste man gar fordern, dass Unwissenheit zur Strafe führt.

Zum Glück leben wir nicht mehr im Zeitalter, da autoritär von oben herab entschieden werden kann. Ärzte sind keine Götter in Weiß, Richter keine in Schwarz. Allerdings treten an die Stelle von Ärzten und Richtern, die selbst im Internet ebenso bewertet werden wie Ebay-Verkäufer, andere Autoritäten, nennen wir sie Testimonials (also Prominente mit fragwürdiger Kompetenz). Ein Gewichtheber wie Matthias Steiner mag ein sympathischer Kerl sein, auch scheinen seine Organe nach der Abmagerungskur in bestem Zustand. Dennoch frage ich mich, was ihn dazu befähigt, vehement für den „Organspende-Ausweis“ zu werben.

Da kommt nämlich neben medizinischen Erwägungen auch die Statistik zum Tragen - ebenso die Ökonomie. Jetzt werden sich einige fragen, was Ökonomie mit Organspenden zu tun hat.

Es geht dabei nicht um den Schwarzmarkt oder um die Preise für eine auf dubiose Weise ergatterte Niere. Vielmehr geht es um die Verschiebung von Entscheidungskalkülen. Mit Penetranz und Vehemenz wird von in dem Bereich vollkommen inkompetenten Menschen dafür geworben, gefälligst „ja“ anzukreuzen, wenn es um die Hergabe der eigenen Organe post mortem geht.

Es geht an die letzten Dinge, ein Tabu, das ist aber nicht der Grund, warum es lebensgefährlich sein kann, naiv der Werbung mit Matthias Steiner, Reinhold Beckmann oder dem Rat eines Arztes blind zu vertrauen, wenn es um das Spenden der Organe geht.

Richter können irren, Ärzte ebenso, wenn es darum geht, dass ein lieber Mensch schwerverletzt im Krankenhaus liegt. Fragt man einen Arzt ganz nüchtern, wie hoch die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten ist, wird er aller Voraussicht nach nicht präzise antworten wie: „20 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit.“ Er wird eher kryptisch sagen: „Aussichtsloser Fall.“ 
Ökonomen der Fachrichtung Entscheidungstheorie haben ein relativ probates Dechiffrierungsinstrument erdacht, mit Betonung auf relativ, Wörter in Wahrscheinlichkeiten zu überführen. „Vielleicht“ bedeutet 30-40 Prozent, „gering“ 20 Prozent, - „sehr gering“ 10 Prozent, „wahrscheinlich“ über 70 Prozent, „sehr wahrscheinlich“ 80 Prozent und mehr.

Der hauptsächliche ökonomische Effekt ist aber ein anderer. Wenn ein Patient mit geringer Überlebenswahrscheinlichkeit von - sagen wir 20 Prozent - vor dem Arzt liegt, kann dieser in Anbetracht hervorragender Organe des Patienten und eines vorhandenen Organspendeausweises den Fall für aussichtslos deklarieren, vielleicht nicht einmal in böser Absicht, es gibt ja keinen Richter und der hat dann auch nicht unbedingt Ahnung von Statistik – siehe oben.

Man könnte dies als ärztliche Fehleinschätzung sehen, aber ich bin mir sicher, dass – solange nur wenige Menschen sonst Organspendeausweise haben - falsche Anreize bestehen, Patienten zu retten, die nur geringe Überlebenschancen haben. 

Anreize sind das, was Ökonomen interessiert. Ein Anreiz könnte darin liegen, dass es drei Mechanismen gibt, die bei nicht gerade mutigen Menschen Wirkung zeigen - nicht jeder Arzt ist ein Professor Brinkmann aus der Schwarzwaldklinik oder ein Super-Medicus.

Erstens kann man mit den Organen, zumindest mit sieben von ihnen, anderen Menschen das Leben erheblich erleichtern oder sogar retten. Zweitens gibt es einen Kostendruck in den Krankenhäusern und eine Innenrevision, die betriebswirtschaftlich hineinregiert. Solche Ärzte, die viele Kosten verursachen, haben kaum Aussicht auf Beförderung. Der Kostendruck wird zunehmen, das steht fest, wenn die Zahl der Beitragszahler nicht steigt, aber die Zahl der Versicherten hingegen erheblich nach oben schnellt.

Drittens soll die Kampagne mit dem netten Gewichtheber und dem etwas blassen Moderator nicht nur deren Marktwert in den Medien steigern oder zumindest sie zu Bundesverdienstkreuzkandidaten machen, sondern auch paternalistisch wirken. Nudging nennt man das auf Neudeutsch. Es geht darum, per Druck erwünschtes Verhalten zu fördern und unerwünschtes zurückzufahren.

Problematisch ist, wenn nur mit Gefühlen - also ohne Verstand - das erwünschte Ergebnis ermittelt wird, das kann im Zweifel für einen wehrlosen Patienten ungewollt tödlich enden.

Sobald die Mehrzahl der Ärztekollegen genauso handelt, also der Organspende den Vorzug gegenüber der Rettung des aussichtsschwachen Falls gibt, wird - sozialpsychologisch betrachtet - ein einzelner Arzt sein Handeln weder hinterfragen noch sich mit lästiger Statistik und Nachdenken hinterfragen oder gar widersprechen. Cosi fan tutte. Pech für den Patienten, Glück für den obersten auf der Warteliste und außerdem kostengünstig.

Die zu erwartende Standardantwort wird dann lauten, dass man ja nicht statistisch sagen könne, wie wahrscheinlich das Überleben des Schwerkranken ist, sondern dass es ja alles sehr individuell sei. Der Standardangehörige wird nicht weiter nachbohren.

Böse, wer genau nachfragt. Und genau das ist auch so gewollt. Bloß nicht fragen, schließlich sind Schwerkranke ja ein erheblicher Kostenfaktor, der jedem Krankenhaus die Kalkulation verdirbt: die letzten Tage sind die teuersten, das weiß man aus Krankenakten.

Exkurs: Überträgt man das auf die EU, heißen die steigenden Kosten auch hier nichts Gutes, kleiner Scherz am Rande.

Man wird dann in ein laues Bad gelockt als Angehöriger, wobei man sich einredet, der geliebte Verwandte lebe ja weiter in anderen, tue eine letzte - oder in einigen Fällen vielleicht erste - gute Tat mit der Hingabe seiner Organe. Nur was, wenn man als Angehöriger weiß, dass - abgesehen hiervon und den hohen Kosten - die Überlebenswahrscheinlichkeit bei 20 Prozent liegt.

Weder würde ich mich oder einen mir nahestehenden Menschen hergeben bei immerhin 20 Prozent. Da ich jeden Monat seit 10 Jahren artig den Höchstsatz an die DAK überweise, habe ich nicht das geringste schlechte Gewissen, im Zweifel hohe Kosten in einem einmaligen, vielleicht auch letzten Krankheitsfall, zu verursachen. Niemand sollte sich scheuen, „nein“ im Organspendeausweis anzukreuzen, egal, was er zahlt.

Besonders geschmacklos an der Kampagne ist, dass unterschwellig den Neinsagern neben schlechter Gesinnung auch Mangel an Aufklärung nachgesagt wird. So nach dem Motto: „Wenn ihr mal schön aufgeklärt seid, werdet Ihr automatisch dafür sein.“

So funktionieren viele als alternativlos deklarierte Projekte.

Nach Sartre ist der Mensch dadurch Mensch, dass er „nein“ sagen kann. Ich habe den Verdacht, dass gerade das Nein-Sagen tabuisiert werden soll. Im Englischen heißt es als Idiom „Don´t take no for an answer.“, meint aber etwas ganz Anderes. Menschen sollen nicht so sehr reflektieren bei der Kampagne für die Organspende, wie es dieser Artikel hoffentlich tut, sondern sie sollen sich einfach in die Schar der Guten einreihen.

Sicher haben sich über diese statistisch-ökonomischen Argumente weder Beckmann noch Lanz oder Steiner Gedanken gemacht, mit Aufklärung ist es dort nicht weit her. Schnell hört man dann, dass Ärzte ja so etwas wie bessere Menschen seien und den Eid des Hippokrates geleistet hätten. Eide leisten viele, auch Kanzlerinnen, glauben vielleicht gar Gutes zu tun, obwohl es offensichtlich das Gegenteil ist.

Aufklärung ist zur Chiffre und zur Selbstbezichtigung gerade der Unaufgeklärten geworden. Wenn es mehr Organspender gäbe, wäre das gut, keine Frage, ich bin aber bekennender Nicht-Spender und trage diesen Ausweis mit dem „nein“ bewusst nicht mit mir herum, damit im Fall eines Unfalles sich ein Arzt nicht mit einem Verlesen herausreden kann, da das „nein“ klein unter einem GROSSEN „JA“ steht.


Hans-Martin Esser (37) ist Ökonom und als Unternehmer tätig.







Achse des Guten
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