Sonntag, 15. Oktober 2017

Wir sind am Ende!

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Kriminalpolizisten in Hamburg: "Wir sind am Ende"

Gewerkschaftschef warnt vor Zusammenbruch. Allein in einer Dienststelle könnten 5000 Straftaten nicht mehr verfolgt werden.


Hamburg. Einbrüche, G20-Gipfel, Attentat in Barmbek, Auto-Poser, Terrorgefahr – die Hamburger Polizei steht derzeit vor einer extrem langen Liste an Herausforderungen, gleichzeitig ist die Personaldecke weiterhin dünn. Erstmals sei die Lage nun so schlimm, dass mutmaßlich bis zum Jahresende tausende Fälle einfach unbearbeitet liegen blieben, heißt es von der Vertretung der Kriminalpolizisten. Sie schlagen in einer ungekannt drastischen Wortwahl Alarm. "Wir sind am Ende ", sagt Jan Reinecke, Landeschef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK).
Allein für die SoKo Schwarzer Block, die nach den Randalierern des G20-Gipfels fahndet, sei jeder zehnte Kriminalbeamte abkommandiert worden – bereits zuvor seien viele Dienststellen am Personalminimum betrieben worden, so Reinecke. "Die Situation lässt nicht mehr zu, die Kriminalität richtig zu bekämpfen. Das betrifft die Organisierte Kriminalität inzwischen ebenso wie Kapitalverbrechen. Der Zustand ist nicht tragbar."

Allein 5000 Fälle blieben im Betrugsdezernat liegen

Besonders eklatant seien die Zustände im für Betrug zuständigen Landeskriminalamt 55: Dort würden bis zum Jahresende mutmaßlich 5000 Fälle liegen bleiben. "Jede Woche sind es 150 Fälle, die auf die Fensterbank wandern, statt sofort bearbeitet zu werden". Die Fallmappen würden teils nur noch in Kartons unter den Schreibtischen gesteckt. "Bis ein Beamter dazu kommt, die Fährte wieder aufzunehmen, hatten die Täter etwa beim Online-Betrug schon genügend Zeit, ihre Spuren zu verwischen", sagt Reinecke. Das betreffe etwa den Identitätsklau im Internet.
Aber auch in sehr sensiblen Bereichen wie Sexualstraftaten fühlten sich die Beamten "nicht mehr wohl in ihrer Haut". Den Beamten in diesem Dezernat seien etwa kürzlich noch weitere Aufgaben zugeteilt worden, sagte Reinecke. "Früher hatten wir Wartelisten für Beamte, die unbedingt in der Mordkommission oder in der Abteilung für Sexualdelikte arbeiten wollten. Heute will da keiner mehr hin".

BDK-Chef: Nicht von guter Gesamtstatistik blenden lassen

Zuletzt hatte die Statistik für die ersten drei Quartale dieses Jahres die niedrigste Gesamtkriminalität in Hamburg seit 18 Jahren ausgewiesen (das Abendblatt berichtete exklusiv). "Die Rückgänge zeigen, dass wir die richtigen Schwerpunkte gesetzt haben", sagt Polizeipräsident Ralf Martin Meyer selbstbewusst mit Blick auf die Delikte Einbruch, Fahrraddiebstahl und Taschendiebstahl. Der BDK-Landesvorsitzende Jan Reinecke warnt aber davor, sich von den Zahlen nicht blenden zu lassen. "Wie viele Straftaten registriert werden, hängt auch davon ab, wie stark die Polizei das Dunkelfeld ausleuchtet". Bei mafiösen Strukturen etwa ließe die Personalsituation kaum noch intensive Ermittlungen zu.
Der Senat legt nach den Ereignissen im Sommer einen Schwerpunkt auf die Ermittlungen gegen politisch und religiöse Gewalt – zuletzt war am Freitag bekanntgeworden, dass Mirko Streiber zum neuen Chef des Staatsschutzes ernannt und die Position in der Hierarchie aufgewertet wird. Obwohl dies bislang nicht bestätigt ist, heißt es in Polizeikreisen, dass Streiber eine größere Zahl von Mitarbeitern in seine neue Dienststelle folgen sollen.

"Es ist alles ausgepresst - nun werden es auch die Bürger spüren"

Die allermeisten Dienststellen seien inzwischen personell "ausgepresst", sagt Jan Reinecke. Entsprechend könnten die zusätzlichen Beamten nur aus dem Landeskriminalamt 1 kommen, das für die Bekämpfung der Kriminalität in der Fläche zuständig ist. "Das bedeutet auch, dass die Bürger den Mangel absehbar noch deutlicher spüren werden".
Neben der Forderung nach mehr Personell richtet der Gewerkschaftschef einen Appell an Polizeiführung und Senat, klare Ansagen zu machen: "Wir müssen wissen, welche Bereiche wir vernachlässigen sollen, wenn es immer neue Prioritäten gibt. So, wie es derzeit läuft, bleibt der Schwarze Peter beim einzelnen Sachbearbeiter hängen", sagt Reinecke.

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