Montag, 27. November 2017

Deutschland - du armes reiches Land !

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Auch Bürgern aus der Mittelschicht 
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droht die Obdachlosigkeit

Der Kampf um günstige Wohnungen kennt immer mehr Verlierer: In Bayern steigt die Zahl der Menschen ohne eigene Bleibe dramatisch an. Betroffen sind mittlerweile auch Menschen mit Vollzeitjob.


Für manchen ist es die erste warme Dusche seit zwei Wochen. Trotzdem muss Sozialpädagoge Christof Lochner vom Obdachlosen-Tagestreff „komm“ oft mit einem Klopfen an die Kabinentür zur Eile drängen, damit jeder auf der Warteliste ein paar Minuten unter der Brause hat. Rund 70 Sitzplätze gibt es in der Teestube des Evangelischen Hilfswerks im Münchner Schlachthofviertel. An kalten Tagen gehen bis zu 200 Menschen ein und aus. „Wir arbeiten an der Kapazitätsgrenze“, sagt der 40-Jährige. Wer hierher kommt, ist in der Verarmungsspirale ganz unten angelangt. „Und es trifft immer mehr Menschen.“
Allein in München haben derzeit 8500 Menschen kein eigenes Dach über dem Kopf – dreimal so viele wie noch 2008. Ende des Jahres, nimmt die Stadt an, werden es bereits 9000 sein. Die meisten davon sind in Notquartieren, Pensionen, Heimen der Obdachlosenhilfe oder Clearinghäusern untergebracht. Darunter auch 1600 Kinder.

Schätzungsweise 550 Menschen leben auf der Straße. Die Dunkelziffer derer, die Platte schieben, dürfte aber weitaus höher sein. Viele sind Armutsmigranten aus Mittel- und Osteuropa, die hier durch jedes Sicherungsnetz fallen. Sie haben kein Recht auf Sozialleistungen. „Viele arbeiten zwar oft als Tagelöhner, finden aber keine Bleibe“, sagt Lochner. Ihnen bleibt bei Minusgraden nur ein Bett im Kälteschutzraum. Doch nicht nur im teuren München, auch in anderen Ballungszentren schlagen die Hilfsorganisationen Alarm.

Wolfgang Krinner berät bei der Caritas in Regensburg längst nicht mehr nur das vermeintliche „Risikoklientel“, sondern immer häufiger Bürger aus der Mittelschicht. „Rentner, die ein Leben lang gearbeitet haben. Alleinerziehende Mütter und selbst Vollzeitbeschäftigte sind von Wohnungslosigkeit bedroht, wenn sie die exorbitant gestiegenen Mieten hier nicht mehr bezahlen können“, sagt der 60-Jährige.
Der Verlust der Arbeit, Krankheit, Trennung oder ein Schicksalsschlag führen schnell zum sozialen Abstieg. Auf den Mietrückstand folgt die Kündigung. Auf die Kündigung die Notunterbringung. Schlimmstenfalls die Straße. Doch der Weg zurück in die eigenen vier Wände wird immer schwieriger.
Denn günstiger Wohnraum ist in den boomenden Großstädten im Freistaat Mangelware. Studenten, Familien mit schwachem Einkommen, Langzeitarbeitslose, Menschen im Niedriglohnsektor – sie alle sind verzweifelt auf der Suche.

Verschärft wird die ohnehin angespannte Lage durch die Flüchtlinge. Die Folge: Ein Verdrängungswettbewerb, der die Ärmsten am härtesten trifft. Auf dem freien Markt haben sie kaum eine Chance, doch auch der Bestand an Sozialwohnungen ist drastisch gesunken. „Der Konkurrenzkampf zwischen Obdachlosen, von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen und anerkannten Flüchtlingen ist längst entbrannt“, sagt Sozialpädagoge Krinner. Und auch Lochner betont: „Der mit den wenigsten Ressourcen bleibt auf der Strecke.“ Die Lage werde sich frühestens in einigen Jahren entspannen. „Doch wo steht dann Deutschland?“, fragt Krinner.

In München ist die Lage besonders schlimm

Besonders dramatisch ist die Situation in der Landeshauptstadt. Bis zu 25.000 Menschen ziehen jährlich an den Wirtschaftsstandort. Obwohl die Stadt millionenschwere Wohnbauprogramme verabschiedet hat, kommt sie dem Bedarf nicht hinterher. Quadratmeterpreise von inzwischen 20 Euro bei Neuvermietungen stellen selbst für Normalverdiener eine Herausforderung dar.
Vor allem die Mieten für Ein- und Zweizimmerwohnungen erreichen Rekordhöhen. Durchschnittlich 40 Prozent ihres Einkommens müssen Münchner nach Angaben des Sozialreferats für Mieten aufbringen. „Geringverdienern bleibt da kaum mehr was zum Leben über,“ sagt Lochner. Wer in München weniger als 1350 Euro verdient, gilt als arm. Das ist fast jede sechste Person.

„Wir stellen fest, dass sich immer mehr Menschen in dieser Stadt für eine geförderte Wohnung bewerben, da sie auf dem völlig überhitzten Mietwohnungsmarkt keine Chance haben“, sagt Sozialreferentin Dorothee Schiwy. Heuer werden es über 28.000 sein, die einen Antrag stellen, 5000 mehr als im vergangenen Jahr. Wie schlecht die zeitnahen Chancen auf eine Sozialwohnungstehen, zeigen die Zahlen: Von den 15.000 berechtigten Haushalten haben 12.000 die höchste Dringlichkeitsstufe. Doch nur 3900 Wohnungen werden überhaupt frei.
Lange Wartelisten gibt es auch in NürnbergAugsburg oder Ingolstadt, sagt Stefan Roth, Mitglied der Geschäftsführung des Verbands bayerischer Wohnungsunternehmen. „Neu ist, dass inzwischen auch in vielen Klein- und Mittelstädten bezahlbare Wohnungen fehlen.“
Das Problem: Der soziale Wohnungsbau wird seit Jahrzehnten massiv zurückgefahren. Aktuell hätten die Mitgliedsunternehmen des Verbands noch 103.000 Sozialwohnungen. Tendenz sinkend. Allein im Jahr 2016 seien bei 7564 Wohnungen die Sozialbindungen ausgelaufen. Für sie können jetzt marktübliche Mieten verlangt werden. „Wenn dieser Trend so weiter geht, sind die Verbandsmitglieder bald die einzigen Wohnungsunternehmen im Freistaat, die Sozialwohnungen im Bestand haben“, warnt Roth. Es seien dringend weitere Akteure gefordert, die sich im sozialen Wohnungsbau und beim Bau von Mietwohnungen engagieren.
Harte Kritik übt auch Thomas Beyer, Landesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt. „Die Politik hat in den letzten Jahren den sozialen Wohnungsbau ruiniert. Und in Bayern hat der Staat zehntausende Wohnungen aus dem Bestand der Bayerischen Landesbank verscherbelt und den Kapitalinteressen der Immobilienwirtschaft zum Fraß hingeworfen.“ Das macht sich bitter bemerkbar.

In Bayern fehlen mehr als 50.000 Sozialwohnungen

„Der Bayerische Gemeindetag geht davon aus, dass in Bayern 50.000 Sozialwohnungen fehlen. Ich würde dieser Zahl ein ,mindestens‘ voranstellen“, so Beyer. Überhaupt gebe es zu wenig Wohnraum. „Allein in Bayern benötigen wir laut Sozialbericht der Staatsregierung bis zum Jahr 2029 rund 1.115.000 neue Wohnungen. Sollte allerdings mit dem aktuellen Tempo weiter gebaut werden, wird das nichts“, sagt Beyer. Vergangenes Jahr seien lediglich 52.000 Wohnungen fertiggestellt worden.
Was das für die Menschen ohne eigene Bleibe bedeutetet? „Sie werden dramatisch lange in den Notunterkünften bleiben müssen, und das unter Bedingungen, die man niemandem zumuten möchte“, sagt Simone Ortner, Bereichsleiterin für Wohnungslosigkeit beim Sozialdienst katholischer Frauen in München. Das betrifft auch die anerkannten Flüchtlinge. Obwohl sie ausziehen dürften, sind nach Auskunft des Sozialministeriums bayernweit 33.000 sogenannte Fehlbeleger weiterhin in Asylunterkünften untergebracht – um sie vor der Obdachlosigkeit zu bewahren.
Das Thema Wohnen, sind sich die Sozialarbeiter einig, müsse in den Mittelpunkt gerückt werden. „Und zwar auf Bundesebene“, so Lochner. Doch auch auch die Solidarität der Stadtgesellschaft sei gefragt. „Und das bedeutet auch, Privatzimmer nicht teuer an Touristen zu vermieteten, sondern zu fairen Preisen an Mitbürger“, sagt Ortner.





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